Alle Welt diskutiert darüber, ob Tyler Robinson nun links oder rechts oder sonstwas war. Es gibt offenbar kaum etwas, das die Menschen mehr interessiert, und kaum etwas, aus dem sie mehr Schlüsse ziehen. Viele zeigen sich ebenso überzeugt wie bestätigt, dass wahlweise die Rechten, die Linken, die Gamer oder irgendeine andere Gruppierung die Schuld an Charlie Kirks Tod trägt. Dabei ist ganz offensichtlich bislang weitgehend unklar, welche Motive den Attentäter angetrieben haben und ob überhaupt irgendein Lager entscheidende Impulse gegeben hat oder vielleicht nur die feindselige Rhetorik Kirks. Das wird Gegenstand der juristischen Aufarbeitung sein und ist dort gut aufgehoben.
Jenseits davon lässt es tief blicken, wenn die Leute ihre kaum fundiert begründbaren Vermutungen über die politische Haltung des Attentäters als Grundlage dafür nehmen, alle in Sippenhaft zu nehmen, die sie dem gleichen Lager zurechnen. Haben wir denn gar nichts gelernt? Linke, Rechte, Ausländer, Queere, Juden: alle gleich! Wenn eine:r etwas anstellt, sind natürlich alle anderen dafür haftbar zu machen! Und wer zu welcher Gruppe gehört, entscheiden wir auch gleich, am besten anhand einfacher oberflächlicher Kriterien wie Hautfarbe, Kleidung oder Ausdrucksweise.
Jeden Tag sinken wir etwas tiefer in primitives Gruppendenken und lassen uns von den Aufpeitschern und Spaltern immer weiter hinein treiben. Die großartige zivilisatorische Errungenschaft der rechtsstaatlichen Idee, wonach niemand für die Verbrechen von Personen gleicher Nation, Religion, Ethnie, Geschlecht, Familienzugehörigkeit oder sonstiger Gruppenmerkmale verantwortlich gemacht werden sollte, scheint in den Köpfen auch nach Jahrhunderten nicht angekommen zu sein. Fleißig ergehen wir uns in plumpen Verallgemeinerungen und ungerechtfertigten Zurechnungen, in Schubladendenken und Herabwürdigung ganzer Scharen. Wir gehen, Gruppe für Gruppe, aufeinander los statt auf die Aufpeitscher und Spalter.
Die treiben weiter ihr perfides Spiel und spalten immer weiter und gewinnen dadurch immer mehr an Einfluss – über ihre hörigen Schafe, die ihnen enthusiastisch hinterher blöken. Denn so lange es gegen die anderen geht, sind wir bereit, jede Scharlatanerie mitzugehen. Was sind wir nur für erbärmlich dumme Schafe, die dumpf ihrer Herde und vor allem ihrem ebenso stolzen wie gefährlichen Bock hinterher laufen?
Tatsächlich ist es völlig egal, ob der Attentäter links, rechts oder sonstwas war. Er war ein Einzeltäter. Er war nicht beauftragt von den Linken, den Rechten oder sonst jemand, so viel steht fest. Nur weil er es getan hat, werden es nicht alle anderen auch machen. Das Einzige, was wir mit einer verallgemeinerten Schuldzuweisung erreichen, ist, dass wir die Polarisierung verstärken und damit bei manchen das Gefühl, sich wehren zu müssen – ggf. mit allen Mitteln. Das erleben wir links wie rechts. Die kollektiven Schuldzuweisungen nach Attentaten von Rechten, Linken und Asylbewerbern hat die Gewaltbereitschaft nicht reduziert, sondern angefacht. Viele sahen und sehen sich immer weiter in den Kampfmodus getrieben. Die Attentäter sind nur diejenigen, die auf all die verbal verbreiteten Feindseligkeiten, Angstmachereien und Gewaltfantasien Taten folgen lassen, wenn sie keinen anderen Ausweg mehr sehen.
Verantwortlich sind deshalb wir alle, die wir zulassen, dass Hass auf bestimmte Gruppen gesäht wird. Verantwortlich sind wir auch, weil Gewalt die Lösungsstrategie Nummer eins in den Medien ist: in Filmen ebenso wie in Videospielen. Hinzu kommt das erbärmliche Schauspiel unserer Repräsentanten, die ebenfalls keine vernünftige Konfliktlösungen vorleben, sondern einen abstossenden Konkurrenzkampf gerne auch persönlich statt sachlich und immer in gruppenspezifischen Zurechnungen. Wer in unserem politischen System nach zielführenden Diskussionen und sinnvollen Lösungen sucht, hat schon verloren.
Wir lassen uns getrost von simplen Zurechnungen und Gruppendenken leiten und stürzen allein auf diese Grundlage die Welt in eine fatale Polarisierung. Ein einziges Attentat eines fehlgeleiteten Einzelnen genügt und Trump kann die Situation für seine autokratische Agenda nutzen und allzu viele halten das sogar für gerechtfertigt.
Dabei ist es völlig gleichgültig, ob der Attentäter sich links, rechts oder sonst wo einordnen lässt, weil es keinen Schluss auf andere Personen zulässt. Der einzige Schluss, den wir ziehen können, ist, dass wir eine Situation geschaffen haben, aus der viele keinen anderen Ausweg mehr sehen als die Anwendung von Gewalt. Befeuert wird dieses Gefühl von denjenigen, die Polarisierung und Martialisierung immer weiter vorantreiben, von böswilligen Spaltern, machtgierigen Politikern, hörigen Schafen, die dem Gruppendenken bereitwillig folgen, und nicht zuletzt Leuten wie Kirk selbst, die auf der polarisierenden Welle reiten.
Die jungen Gamer wissen in der Regel wenig von links und rechts, selbst wenn sie sich so einordnen. Dafür wachsen sie in einer Welt auf, in der friedliche Lösungsstrategien kaum mehr vorkommen – weder real noch online und schon gar nicht in Computerspielen. Die Attentäter sind nur das Resultat einer Polarisierung, die ganz andere absichtsvoll betreiben. Egal, wo wir Attentäter einordnen, niemals darf man davon auf all die anderen schließen, die wir kurzerhand genau so einordnen, schon gar nicht wenn wir die Welt nach links und rechts in zwei Welten teilen.
Und wenn wir schon über Motive sprechen, dann sollten wir nicht vergessen, dass das Attentat auf Kirk das perfekte Szenario für die Groyper-Bewegung wäre. Ein ungeliebter Konkurrent im rechten Lager würde ausgeschaltet und damit die Schuld den Linken zugerechnet wird, genügt es, auf ein paar absichtsvoll liegen gelassenen Patronen kryptische Botschaften einzugravieren. Es spricht manches gegen dieses Szenario und manches dafür. Es verhält sich wie mit manch anderem Szenario. Das Schlimme ist, das wir in einer Welt leben, in der ein solches Szenario denkbar wäre, weil die große Masse der Leute im Gruppendenken so weit fortgeschritten ist, dass die politische Wirkung so manchen Spaltern und Aufpeitschern politisch in die Hände spielt.