(Ent-)Gendern: Wissenschaft

Umfassendes Gender-Symbol
Umfassendes Gender-Symbol

Völlig unabhängig davon wie myn zu Fragen des Genderns oder Entgenderns steht, für die Wissenschaft stellen sie eine Herausforderung dar. Sprache ist kein Untersuchungsgegenstand wie jeder andere, denn sie bildet das Arbeitsmittel, mit dem jede Untersuchung von Gegenständen erfolgt. Ohne sie bleibt Wissenschaft stumm. Sprache verschafft jeder Untersuchung überhaupt erst Artikulation und gibt damit den Rahmen des Artikulierbaren vor. Keine Wissenschaft kann den Horizont des sprachlich Formulierbaren je verlassen. Wir können nur sagen, was wir sagen können; aber wir können nicht sagen, was sich nicht sagen lässt. Sprache kann sich ändern, die Grenzen des Artikulierbaren verschieben und trotzdem können wir nie wissen, was uns dennoch verwehrt bleibt. Wenn wir alte Texte lesen, erahnen wir lediglich, wie sehr sich der Kosmos des Artikulierbaren verschoben hat. Manche Sprachfertigkeiten von damals sind verkümmert, anderes lag weit jenseits des ehemals Vorstellbaren. Wyr auch immer Sprache benutzt, ringt jedenfalls gelegentlich mit ihren Grenzen und spürt eine Limitierung, ohne angeben zu können, in welchem Umfang sie besteht. Wir sind schlicht außer Stande zu formulieren, was sich jenseits des Formulierbaren verbirgt. Klar ist nur: Mit Sprache lässt sich unglaublich viel sagen, aber nicht alles — ohne sie allerdings gar nichts.

Eine Untersuchung der Sprache betrachtet, was sie gerade verwendet. Sie untersucht ihr Werkzeug während sie es benutzt. Das ist so weit nichts Ungewöhnliches: Auch die Naturwissenschaften setzen nicht die Naturgesetze außer Kraft, so lange sie daran forschen. Forschyr sind bei ihrer Arbeit der Schwerkraft ebenso sehr ausgesetzt wie der Sprache. Der Unterschied besteht darin, dass sich die Schwerkraft in der Niederlegung der Ergebnisse nicht niederschlägt, wogegen Sprache ihnen überhaupt erst Form und Inhalt verleiht, in der sie Niederschlag finden können. Naturgesetze ändern sich nicht dadurch, dass an ihnen geforscht sind und sie unterliegen auch keinen Veränderungen, die eben solche in ihrer Beforschung nach sich zöge.

Manche Forschung an der Sprache geriert sich ebenfalls so, als würde sich ihr Untersuchungsgegenstand dadurch nicht ändern. Die Analyse grammatischer Strukturen meint festzuhalten, was sie vorfindet, obwohl sie doch erheblichen Einfluss auf die Sprache nimmt, allein indem sie das Bestehen auf grammatische Korrektheit überhaupt erst ermöglicht und dadurch eine normierende Wirkung entfaltet. Erst durch die Entdeckung der Grammatik wird diese zum Lehrgegenstand und übt ihre disziplinierende Kraft auf die Schüler aus. Sie verfestigt jene grammatischen Regeln, die sie lediglich zu beschreiben behauptet.

Sprache ändert sich durch ihre Erforschung. Aber nicht nur dadurch: Sie verändert sich ohnehin kontinuierlich, weil sie von dynjenigen abhängig ist, die sie verwenden. Sie existiert überhaupt nur, insofern sie Verwendung findet und weist dadurch eine gewisse Flüchtigkeit auf, worüber auch Schrift nur insofern hinwegtäuschen kann, als dass sie einen Moment der Verwendung durch einyn Autyr festhält, dys schon im nächsten Moment sich ihrer anders bedient, sie anders formt.

Sprache mangelt es in gleicher Weise an Materialität wie Gesellschaft, dennoch bildet beides Grundlage jeder Wissenschaft — und damit auch Grundlage für deren Zurückwirken auf beides: Sprache und Gesellschaft. Sie sind eng verknüpft — und Wissenschaft als Teil letzterer ebenso (vgl. Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung, S. 48ff). Nicht genug damit, dass Wissenschaft ohne Sprache nicht auskommt, diese bildet auch wesentlich ihre Grundlage. Ohne sie gibt es so wenig Forschung wie Dokumentation ihrer Ergebnisse.

Wenn sich Sprache ändert, ändert sich auch Wissenschaft. Es kann nicht folgenlos bleiben, wenn das fundamentale Medium wissenschaftlicher Artikulationsfähigkeit sich wandelt, so wie es für den Schall nicht folgenlos bleibt, wenn sich das Medium seiner Übertragung ändert. Fraglich und schwer ergründbar ist freilich, welche wissenschaftlichen Bereiche davon betroffen sind und in welchem Umfang. Denn eine jede Einschätzung dazu bedient sich dabei selbst wiederum unweigerlich der Sprache — und spiegelt in ihrer Verwendung womöglich schon deren Veränderung wieder. Es gibt jedenfalls keine Möglichkeit, wissenschaftliche Erkenntnis jenseits davon zu artikulieren (vgl. Habermas: Erkenntnis und Interesse, S. 204ff). Wissenschaft bleibt auf Sprache verwiesen.

Wenn die Wissenschaft sich nun der Sprache annimmt, fühlt sie sich, wie bei jedem anderen Untersuchungsgegenstand auch, der Wahrheit verpflichtet. Sie versucht sprachlich wahre Aussagen über die Sprache zu machen. Die Selbstreferenz ist unübersehbar. Macht schon allein das die Lage kompliziert, wird sie nicht einfacher dadurch, dass sich ihr Untersuchungsgegenstand, der zugleich ihr Untersuchungsinstrument ist, beständig wandelt. Kaum meint myn Sprache zu fassen zu bekommen, hat sie sich wieder verändert und myn weiß weder, wie sich das auf sie als Gegenstand auswirkt, noch wie auf sie als Instrument. Freilich vollzieht sich der Wandel nur langsam, doch lässt sich kein Fixpunkt ausmachen. Wir wissen, dass sich der sprachliche Boden, auf dem wir stehen, verschiebt, aber wir haben keine Referenz, an der wir die Bewegung festmachen könnten. Plattentektonik steht in Relation sowohl zum Erdkern als auch zu einem ganzen Universum drumherum; Sprache ist ein Universum für sich. Sprachwandel lässt sich nur sprachlich bestimmen — bei aller Unbestimmtheit, die damit einhergeht.

Woran also soll eine wissenschaftliche Untersuchung der Sprache den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen bemessen, wenn es nichts gibt außer eben diese Sprache selbst, zu der man sie in Beziehung setzen könnte? Angesichts dieser Ausgangssituation verwundert es nicht einmal, dass die Diskussion übers Gendern läuft, wie sie läuft: Unübersichtlich, unkontrolliert, unwirsch. Mittlerweile Jahrzehnte alt will sie noch immer keine geordneten wissenschaftlichen Bahnen annehmen, neigt häufiger zu Polemik als sie sich einem methodischen Vorgehen fügt. Verzweifelt wird nach Referenzpunkten gesucht, an denen sich einordnen ließe, was vom Gendern zu halten ist: Da wird historisch erläutert, warum das generische Maskulinum berechtigt ist; grammatikalisch, warum manche gendersensiblen Formen irreführend sind; kulturell, warum hier einem Kulturbestand Gewalt angetan wird; politisch, warum es sich dabei um einen ideologischen Feldzug handelt; und juristisch, warum es eine formale Verpflichtung zu konformer Orthografie gibt (vgl. Eisenberg: Weder geschlechtergerecht noch gendersensibel).

All die herangezogenen Maßstäbe sprechen scheinbar gegen das Gendern. Dessen Gegnern genügt das, um die Sache für entschieden und erledigt zu halten. Doch angesichts der methodischen Selbstreferentialität konnte gar nichts anderes herauskommen, denn all diese Maßstäbe entspringen ja gerade jenem Status der Sprache, der sich durch den Sprachwandel herausgefordert sieht. Wenn man Neues am Alten bemisst, wird man zwangsläufig eine Abweichung feststellen und wenn man dann das Alte zum Maßstab erhebt, kann das Urteil fürs Neue nur negativ ausfallen. Wyr Maßstäbe an Sprache anlegt, darf nicht außer Acht lassen, dass diese Maßstäbe selbst sprachlicher Natur sind.

Teil 1 zu (Ent-)Gendern siehe: hier.

Literatur:

Eisenberg, Peter (28. Jan. 2022). »Weder geschlechtergerecht noch gendersensibel«. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 5-7/2022.

Habermas, Jürgen (1973 (1968)). Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt am Main.

Habermas, Jürgen (2004 (1999)). Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt am Main.

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