
Achso, ich führe also ein Unterschichtendasein – gemessen an den Ansprüchen des Spiegel-Autors Niclas Seydack jedenfalls. Ich verdiene überdurchschnittlich, führe ein zufriedenes Leben und habe mehr als genug, doch Seydacks Ansprüche will und kann ich nicht erfüllen: Jeden Tag (Fleisch) essen gehen, jedes Abo dieser Welt, Black-Tiger-Garnelen, Fußmassage, Hemden in die Reinigung geben, Konzerte besuchen, verlängerte Wochenenden am Gardasee sowie regelmäßige Flugreisen. Ein Leben im Luxus! Doch, so lerne ich, so lange man nur deren Lebensstil führt, aber keinen Porsche am Tegernsee stehen hat, zählt man sich nicht zur Oberschicht. Erstaunlich, was von einem Mittelschichtsleben alles verlangt wird.
Noch erstaunlicher, die Reaktion auf dessen Nichterfüllung: Auf großem Fuße leben wollen, aber rumjammern, dass die Preise für den gewöhnlichen Alltag, also für Nahrungsmittel und Miete steigen. Die sollen doch bitte konstant bleiben, damit man sich endlich das Oberschichtenleben leisten kann, das man einfach mal zur Selbstverständlichkeit erklärt hat. Wenn der Geldbeutel mit all den Ansprüchen nicht mithalten kann, dann sind natürlich die Preise schuld – und nicht die Ansprüche oder gar der Geldbeutel.
Allerdings sind nicht alle Preise schuld, sondern nur die des profanen Teils des Lebens: Essen und Wohnen. Kein Wort über den ständig steigenden Anteil an Ausgaben für Urlaub und Gadgets bis weit unterhalb der Mittelschicht. Kein Wort über all die Ausflüge, die längst ihre Besonderheit verloren haben, weil sie ebenso selbstverständlich wie regelmäßig stattfinden, und immer öfter so genannte Kurztrips in beliebige Städte Europas oder gar darüber hinaus einschließen. Kein Wort auch darüber, dass es teure Mobiltelefone sein müssen, wo es billige mit vergleichbarer Funktionalität gäbe. All die horrenden Kosten für unseren alltäglich gewordenen Luxus werden nicht mal erwähnt, denn Schuld am leeren Geldbeutel trägt natürlich das Brot, das so teuer geworden ist.
Seydack versinkt in einer allgegenwärtigen subjektiven Perspektive, deren Blick über den Tellerrand gerade so bis zum statistischen Bundesamt reicht, das mit seinen relativen Maßstäben immerhin zu berichten weiß, dass (noch) nicht alle einen derart anspruchsvollen Lebensstil pflegen, was Gelegenheit geboten hätte, die eigenen Ansprüche auf den Prüfstand zu stellen. Stattdessen macht man sich lieber zum Opfer von Lebensumständen, bei denen sich leider, leider die Inflation deutlicher bemerkbar macht. Anstatt den eigenen Lebensstil zu hinterfragen, wird der einfach unverrückbar gesetzt. Anstatt den Lifestyle an den Geldbeutel anzupassen, mögen doch bitte die Rahmenbedingungen sich an den Lifestyle anpassen.
Vom Autor eines renommierten, überregionalen Magazins darf man mehr erwarten als einen Blick Richtung bundesdeutschem Durchschnitt als einzigen Maßstab jenseits der Ego-Perspektive. Schließlich führt auch der lediglich dazu, sich an anderen zu messen. Wenn die anderen mehr haben, will ich das auch. Ich bin doch Durschnitt – mindestens. Daraus kann nichts anderes resultieren als ein sich selbst verstärkender Zirkel steigender Ansprüche bis ins Unermeßliche, denn die Hälfte liegt definitionsgemäß immer unter dem Median (und somit mehr als die Hälfte unter dem Durchschnitt, weil diesen die hohen Einkommen nach oben ziehen). Wenn wir alle Durschnitt sein wollten, hülfe nur Sozialismus, aber kein weich gespülter. Seydacks Klagen über kapitalistische Auswüchse, legen beinahe nahe, dass er genau danach sucht; sein Unwillen, seinen Lifestyle seinen finanziellen Möglichkeiten anzupassen ebenfalls. Jedenfalls regt das marktwirtschaftliche Prinzip, mit begrenzten Ressourcen umzugehen, seinen Unwillen. Champions-League-Abo für alle!
Früher bot mir der Spiegel Perspektiven, die über meinen Tellerrand hinaus reichten, die meinen Horizont erweiterten, die mich neugierig machten und zu (Selbst-) Kritik einluden, heute fühle ich mich von ihm eingeengt. Statt individuelle Situationen in übergreifenden Strukturen zu verorten, suhlt er sich in ersteren und verortet alle Unpässlichkeiten bei Politikern. So wie das alle anderen auch tun. Der Spiegel scheint nicht einmal mehr in der Lage, der Tagespolitik weit genug zu entfliehen, um die Unpässlichkeiten des politischen Geschäfts benennen zu können. Jede noch so kleine Kritik am politischen System ist ihm unmöglich geworden aus lauter Angst vor all denjenigen, die das System hinweg fegen wollen, anstatt es zu reparieren.
Statt dessen lesen wir Klagelieder: Hat ernsthaft irgendjemand geglaubt, dass wir alle ein Luxusleben führen können, befeuert mit billigem Öl und Gas, dessen Import von Russland die große Koalition unentwegt voran getrieben hat? Allen völkerrechtswidrigen und aggressiven Militäroperationen zum Trotz, die schon lange vor dem Überall auf die Ukraine statt gefunden haben, hat sie uns in tiefste energiepolitische Abhängigkeit von Russland gestürzt, um uns kurzfristig ein Luxusleben zu bescheren und selbst Wahlen zu gewinnen.
Doch die dargebotene Frucht war faul. Es war längst klar, dass es so nicht weitergehen kann. Gegen Klimawandel, Fluchtursachen und Digitalisierungsfolgen hilft keine Abwrackprämie zugunsten betrügerischer Hersteller von Dieselfahrzeugen, die immer noch einem technologischen Konzept folgen, das über hundert Jahre alt ist. Die Welt ist nicht so rosig, wie wir uns das vorgaukeln und mit reichlich CO2-Ausstoss auf Kosten der Zukunft teilweise auch erkauft haben. Das Luxusleben ist nur eine Illusion, die Werbebranche und Soziale Medien nur allzu gern aufgreifen und der wir alle sogleich hinterher rennen. Und wenn wir nicht mithalten können, dann stürzen wir in die Depressionen. Die anderen machen doch auch alle Kreuzfahrt!
Putins perfider Zersetzungsplan fordert uns heraus : Mit billigem Öl und Gas hat er uns alle an ein Leben in Saus und Braus gewöhnen wollen, von dem wir nicht mehr lassen können. Erfüllt von Verlustängsten um unser Luxusleben zerfleischen wir uns gegenseitig. Statt uns den unausweichlichen Herausforderungen zu stellen und die (un-)verantwortlichen Das-Blaue-vom-Himmel-Versprecher zum Teufel zu jagen, weinen wir dem fossilen Traum nach, der uns und unseren Kindern die Zukunft raubt. Putin hat auf unsere Kurzsichtigkeit und Selbstbezogenheit gesetzt. Bei Ihnen, Herr Seydlack, hat’s geklappt.
Der relevante Maßstab für einen angemessenen Lebensstil kann nicht das statistische Bundesamt sein, sondern er kann nur Nachhaltigkeit heißen und von dem sind wir dank Ego-Perspektive all-überall weit entfernt. Jede zukünftige Generation hat das Recht zu fragen: Was habt ihr uns hinterlassen? Und jede lebende und jede zukünftige Generation hat immerdar die Pflicht, nie mehr Luxus zu beanspruchen, als auch in Zukunft möglich sein wird. Die Boomer und einige Generationen davor und danach haben sich genau daran nicht gehalten. Sie haben sich mehr genommen, als ihnen zusteht. Und damit die Ölscheichs und Diktatoren groß gemacht, deren Machtallüren jetzt all das Geld auffressen, das wir für eine nachhaltige Zukunft für alle bräuchten. Die vorangehenden Generationen haben uns auf Abwege geführt. Wir haben die Chance, das zu ändern. Lassen Sie es uns angehen. Auch ohne Sky-Abo.